Rede zum Volkstrauertag 2017 – Kriegskinder

Grafing, 18. November 2017

Liebe Grafingerinnen und Grafinger,

Bei besonderen Ehrentagen, bei hohen runden Geburtstagen oder bei der Goldenen oder gar Diamantenen Hochzeit, besuche ich als Bürgermeisterin gerne die Jubilare und gratuliere.

Ich genieße diese Gespräche mit Menschen, die meine Eltern sein könnten. Die meisten Menschen sind glücklich, ein hohes Alter erreicht zu haben. Freuen sich an ihren Familien, an Freunden und Verwandten. Und auch wenn sie nicht mehr gesund sind, blicken die meisten doch dankbar zurück.

Neulich erzählt mir eine Jubilarin, dass ja alles so schön wäre, wenn diese Träume nicht wären.

Die Träume verfolgen sie – und sie träumt von ihrer Zeit als junges Mädchen im Krieg und nach dem Krieg.
Von der Vertreibung aus der Heimat zusammen mit ihrer Mutter.
Von der Sorge um Vater und Bruder.
Vom Ankommen im ihr vollkommen unbekannten Bayern.
Von der Wohnungseinweisung. Dem fremden Dialekt.
Von Hunger, Kälte, Sorge, Verlassenheit. Heimweh.

Es ginge ihr ja so gut, erzählte mir die 90-Jährige, wenn die Erinnerung sie nur nicht immer wieder einholen würden.

Wir wissen heute aus der Wissenschaft, dass die menschliche Erinnerung gnädig ist. Was schlimm ist, wird weg gepackt und vergessen. Das funktioniert lange. Aber nicht ewig und nicht mehr im hohen Alter.
Irgendwann kommen die Erinnerungen hoch.
Bevorzugt in der Nacht. Hindern am Schlafen, quälen.

Nach dem Krieg war ja auch keine Zeit zum Erinnern: die Menschen, die jetzt alt oder sehr alt sind, waren nach Kriegsende Kinder und Jugendliche.
Die Zeiten waren aufregend, eine Aufbruchsstimmung machte sich breit.

Das Land musste aufgebaut werden. Den meisten Menschen ging es wirtschaftlich immer besser. Neue Musik wurde gehört, es gab wieder Theater und Kino, Ehen wurden geschlossen, Häuser gebaut, und Kinder kamen auf die Welt.

Wo wäre Zeit und Muße geblieben, um sich zu erinnern?
Die Erinnerungen wären zu quälend gewesen, durchsetzt von Trauer oder gar Schuldgefühlen.

Machen wir uns doch bewusst, wie die Generation meiner Eltern, die Generation der in den 20er und 30er Jahren geborenen, erzogen wurde:
Sie wuchs im Umfeld des schrecklichen Unrechts des Nationalsozialismus heran.

Machen wir uns doch bewusst, was für einen Bruch die eigene Identität erleidet, wenn vieles, was man als Kind gelernt hat, plötzlich nichts mehr gilt.
Nichts mehr Wert ist. Das Weltbild und das Gefühl, was richtig ist, zusammenbricht.

Dann ist es doch schon aus reinem Selbstschutz besser, zu vergessen.

Bitte verstehen Sie mich richtig, mir geht es nicht um die alte Schuld-Diskussion, sondern darum, Verständnis zu wecken für die Traumatisierung dieser Generation der Kriegskinder.
Opfer des Krieges waren diese Kriegskinder.
Kinder, die eigentlich beschützt und von Liebe umhüllt aufwachsen sollten.

Ihr Leben lang haben diese Kriegskinder Sicherheit vermisst.
Kriegserfahrung, Flucht und Ungewissheit haben unauslöschlich Spuren in den kleinen Kinderseelen hinterlassen.
Geblieben sind Angst und Verunsicherung. Sprachlose Trauer.

Die Kinder dieser Kriegskinder wiederum blieben zwar vom Schrecken des Krieges verschont. Aber der Krieg hinterließ auch bei ihnen Wunden, die bei vielen ihr Leben lang nicht geheilt sind.

In vielen deutschen Familien spielten sich in den Fünfzigern bis hinein in die sechziger Jahre andere Kriege ab: heftige Generationenkonflikte.
Der Versuch, das mühsam aufgebaute Leben mit den Kriegserinnerungen in Einklang zu bringen, hatte seinen Preis.

Das Überleben und der Wiederaufbau erforderten die ganze Kraft.
Für eine Auseinandersetzung mit den vergangenen Erlebnissen und gleichzeitig mit der nachfolgenden Generation war keine Kraft mehr.

In vielen Familien waren die Kinder in den Nachkriegsjahren unsichtbar, weil die Eltern selber noch umgeben von Nebel lebten, und ihnen die traumatische Vergangenheit realer erschien als die Gegenwart.
Die Menschen wurden mit den Langzeitfolgen des Kriegstraumas nicht fertig.

Trauer ist ein langer, schmerzlicher Vorgang, – den jeder Betroffene auf andere Art und Weise erlebt, und versucht, damit zu Recht zu kommen.

Der zweite Weltkrieg liegt schon so lange zurück – seine Folgen sind aber bis in die zweite und dritte Generation noch zu spüren.

Schon deshalb sollten wir unseren Kindern mit Nachdruck den Frieden erklären. Damit sie anderen nie den Krieg erklären müssen.

Kinder trifft nicht die geringste Schuld, aber sie haben die größte Angst und werden am meisten geprägt, für ihr ganzes Leben.

Ich wünsche mir für alle Kinder dieser Welt, in einer Welt leben zu dürfen, in der Frieden natürlich ist.

Totengedenken

Wir denken heute
an die Opfer von Gewalt und Krieg,
vor allem an die Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken
der Soldaten, die in den Weltkriegen starben,
der Menschen, die durch Krieg oder in Gefangenschaft,
als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer,
die verfolgt und getötet wurden,
weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurden.

Wir gedenken derer,
die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern
um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage,
um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung,
um die Soldaten und andere Einsatzkräfte, die ihr Leben verloren.

Wir gedenken heute auch derer,
die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind.

Wir trauern mit allen,
die Leid tragen um die Toten und teilen ihren Schmerz.
Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.

Volkstrauertag Grafing/Oberelkofen 2017 – Angelika Obermayr