Rede zum Volkstrauertag 2014

Liebe Grafingerinnen und Grafinger!

Vor 100 Jahren, Anfang August, begann der Erste Weltkrieg, ein Krieg, den unsere Nachbarn auch den Großen Krieg nennen,
• ein Kriegsanfang, der der maßlosen Ignoranz und Überheblichkeit von Mächtigen geschuldet ist,
• ein Krieg, der in Europa nahezu jede Staatsgrenze verschob und nahezu jede Staatsform änderte (Österreich-Ungarn zerfiel, in Russland ging das Zarentum unter, in Deutschland das Kaiserreich),
• ein Krieg, der es letztendlich einem österreichischen Postkartenmaler erlaubte, mit einem Deutschland einen Zweiten Weltkrieg loszutreten,
• ein Kriegsanfang, der zum Ausgangspunkt für all den kriegerischen Unsinn, das Massentöten und die Verwerfungen der letzten hundert Jahre werden sollte,
• ein Krieg, der auch hier in Grafing aus nahezu jedem Haus und jedem Hof seine Soldaten forderte, um sie auf Schlachtfeldern sterben zu lassen.

Es wird immer wieder berichtet, mit welcher Begeisterung unsere Soldaten in den Krieg gezogen sind – überzeugt, nach kurzer Zeit wieder daheim zu sein, als ginge es in einen aufregenden Abenteuer-Urlaub.
Ich glaub‘ das nicht: Hier bei uns, in Grafing, Elkofen, Eisendorf, Dichau, Nettelkofen, Wiesham und Straußdorf, wie überall auf dem Land, war Erntezeit – und mitten in dieser Erntezeit sollten der Bauer und seine Söhne plötzlich eine Uniform anziehen und irgendwohin weit weg fahren, um dort ihnen unbekannte Menschen zu erschießen.
Die Begeisterung wird gering gewesen sein, die Sorge groß, die Angst überwältigend – auch die Existenzangst der daheimgebliebenen Frauen und Mütter.
In seiner Meinung zu diesem Krieg war jeder hier abhängig davon, was ihm Medien und die Gerüchteküche vormachten: Keiner der Handwerker und Bauern, die in den Krieg zogen, wusste doch wirklich, warum und wozu; alle waren sie abhängig davon, was die Regierenden ihnen dazu sagten – und diese sagten ihnen, dass es gerade angebracht wäre, Franzosen oder Russen zu erschießen, weil diese Deutschland bedrohten, und dass das ganz einfach und schnell vorüber sei.

Schon nach 4 Wochen war die kümmerliche Strategie der Generäle gescheitert und Grafinger Burschen saßen in französischen Schützengräben fest.
Um diese Zeit, vor genau hundert Jahren, 3 Monate nach Kriegsbeginn, kamen in die Grafinger Häuser die Meldungen von den ersten Toten;
um diese Zeit läutete oft die Sterbeglocke in Grafing.
130 Grafinger waren es, die für diesen Unsinn starben; das ist ein toter Grafinger alle 12 Tage, 4 Jahre lang, 1.500 Tage lang.

Wer nicht irgendwann erschossen, durch Gas vergiftet oder quälend krank an der Front verendete, saß weiter im Schützengraben, im Dreck, im Hunger, zwischen toten Freunden, in panischer Angst, ständiger panischer Angst, wochenlang, monatelang, vielleicht sogar jahrelang. Vielleicht überlebte er den Krieg sogar, und kam heim. Aber wie „heim“?

Wer den Schützengräben wieder entkommen war, trug unerträglich schwer an dem Erlebten und wurde zu Hause noch nicht mal als richtiger, vollwertiger Held empfangen, denn er hatte ja überlebt.
Er kam heim in eine Nation, die gerade einen Krieg verloren hatte, die gerade mit einer Revolution zu kämpfen hatte. Er kam heim, psychisch schwer gestört und traumatisiert – heute würde man das als „Posttraumatische Belastungsstörung“ bezeichnen. Er kam heim, und in seinem Kopf war immer noch Krieg und Panik jeden Tag.
Aufgefangen mit seiner psychischen Verletzung wurde er da nur bedingt. Am Ende wurde er als „Kriegszitterer“ wenig ernst genommen. Seine Selbsthilfegruppe wurde der Veteranen- und Kriegerverein, wo er sich austauschen konnte mit Kameraden, wo er vom Krieg reden konnte und verstanden wurde, wo er wenigstens versuchen konnte, zu verarbeiten, was er erlebt hatte.
Auch ich habe die Rolle der „Alten, die vom Krieg reden“ lange Zeit nicht verstanden, aber diese Veteranenvereine spielten eine selten verstanden wichtige Rolle für den traumatisierten Heimkehrer.

Einer meiner Vorgänger im Amt des Grafinger Bürgermeisters hatte damals schon die schöne Idee, nicht nur der Toten dieses Krieges zu gedenken, sondern auch der bemitleidenswerten Heimkehrer. Und er sammelte Geld für ein Heimkehrerdenkmal.
Dieses Heimkehrerdenkmal wurde 1929 auf Initiative des Veteranen- und Kriegervereins bei der Pfarrkirche errichtet und sollte seither an die aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrten Soldaten erinnern. Die Widmungsinschrift lautete: „In Dankbarkeit gewidmet ihren vom Weltkrieg wiedergekehrten und in der Heimat verstorbenen Kriegern: Die Pfarrgemeinde Grafing“.
Heute gibt es das Grafinger Heimkehrerdenkmal nicht mehr. Es steht jetzt am Waldfriedhof und ist, einem Wunsch der Heimatvertriebenen folgend, „Unseren in der Heimat verbliebenen Toten“ gewidmet.

Mit den folgenden Gedanken möchte ich schließen:
Passen wir immer auf, dass wir uns nicht hinreißen lassen zu Begeisterung oder Ablehnung, ohne wenigstens zu versuchen, auch die andere Meinung zu hören.
Denken wir daran, was die Geschichtsbücher in hundert Jahren über die, in ihrer Dynamik noch nicht absehbaren, Konflikte des Jahres 2014 schreiben werden.